"Ein Leuchtturm in Europa"

Ein Blick auf Vergangenheit und Zukunft des Studienzenrum für Sehgeschädigte.


Das Studienzentrum für Sehgeschädigte (SZS) ist eine deutschlandweit einzigartige Institution am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Mit Beratung, technologischer Unterstützung und Forschungsarbeit kümmert sich die Einrichtung bereits seit über 20 Jahren um die Belange von blinden und sehbehinderten Studierenden in Karlsruhe und ganz Deutschland.
Gerade in dieser Woche veranstaltete das SZS wieder eine Orientierungsphase bei der Studieninteressierte mit Sehbehinderung aus ganz Deutschland nach Karlsruhe kamen, um sich über die Möglichkeiten der technischen Unterstützung beim Studium zu informieren. Wie das SZS entstanden ist und wie Studierende mit zukünftigen Technologien unterstützt werden können beantworteten der Gründer des SZS Joachim Klaus und der neue Leiter Rainer Stiefelhagen in einem Interview mit dem Magazin "lookKIT".


Wie sahen die Anfänge des SZS aus?


Joachim Klaus: Ausgangspunkt für das SZS war der Modellversuch „Informatik für Blinde“, den ich nach 20 Jahren Erfahrung in der Studienberatung, zehn Jahren Arbeit im Fernstudienzentrum und als Behindertenbeauftragter der Universität 1986/87 gemeinsam mit dem Informatik-Mitarbeiter Karl Dürre entwickelte. Dürre, der später in die USA auswanderte, hatte den BrailleButler entwickelt, ein Editorprogramm für den Screenreader und Braillezeile. Nach Förderende wurde der Modellversuch 1992 in das Studienzentrum umgewandelt und institutionalisiert. In den folgenden beiden Jahrzehnten wurde das SZS zu einer international führenden Einrichtung – zu einem europaweiten Leuchtturm.

Die Braille-Schrift ist auch am SZS allgegenwärtig und hilft Blinden und Sehgeschädigten

Die Braille-Schrift ist auch am SZS allgegenwärtig und hilft Blinden und Sehgeschädigten


Welche Ziele hatten Sie?


Klaus: Wir wollten vorrangig stets die neuesten Medien nutzen. Im Gegensatz zu anderen Serviceeinrichtungen haben wir keine Tonbandkassetten erzeugt, keine Texte aufgelesen. Das zweite Ziel war, für Sehgeschädigte bis dato verschlossene Studiengänge zu öffnen – in den Natur-, Ingenieur-, Wirtschaftswissenschaften – und Rahmenbedingungen für einen erfolgreichen Studieneinstieg, Studienverlauf und Studienabschluss zu schaffen, immer in enger Vernetzung mit Fakultäten und Instituten. Gleichzeitig setzten wir uns für die Studierenden an der Schnittstelle Arbeitsmarkt ein. Wir ermöglichten ihnen vielfältige Praktika und Studienmöglichkeiten im Ausland.


Hat das SZS denn Anstöße für vergleichbare Einrichtungen gegeben?



Klaus: In Deutschland gibt es keine vergleichbare Einrichtung. An der TU Dresden ist in kleinerem Maß etwas Ähnliches entstanden. Deshalb müssen wir uns immer wieder der Aufgabe stellen, dass Betroffene nach Karlsruhe geschickt werden oder wir die Betreuung übernehmen sollen – eine Auszeichnung und Herausforderung zugleich. Im Ausland waren meine Bemühungen erfolgreich: Gemeinsam mit österreichischen Kollegen haben wir in Linz ein Zentrum aufgebaut. Daneben steht große Aufbauarbeit in osteuropäischen Ländern, finanziert aus EU-Fördermitteln. Der Erfahrungstransfer in Länder, in denen die Situation von Sehgeschädigten, auch aufgrund bestimmter Krankheitsbilder, geradezu dramatisch ist, war uns sehr wichtig. In den vergangenen Jahren waren vor allem Zentralafrika – Äthiopien und Kenia – im Fokus. An diesem Engagement hängt weiterhin mein Herz.


Welche anderen Pläne haben Sie jetzt?


Klaus: Gerne möchte ich mich noch einmal mit den pädagogischen, organisatorischen, technologischen, aber auch politisch-gesellschaftlichen Aspekten der Geschichte des SZS befassen. Auch werde ich weiterhin an den Kongressen des ICCHP und dem ICC-Computercamp mitarbeiten und dadurch auch Rainer Stiefelhagen unterstützen.

Rainer Stiefelhagen: Für mich öffnet Joachim Klaus Türen. Die verschiedenen Partner sehen, dass ein perspektivenreicher Übergang stattgefunden hat.


Herr Stiefelhagen, der Titel ihrer neu eingerichteten Professur lautet „Informatiksysteme für sehgeschädigte Studierende“. Was ist darunter zu verstehen?


Stiefelhagen: Wir wollen neue, informatikgestützte Technologien entwickeln, um Sehgeschädigte zu unterstützen. Auch planen wir eine Ausweitung denkbarer Einsatzfelder, die über die Zielgruppe Blinde und Sehbehinderte hinausgehen: Die IT- Assistenzsysteme sollen auch für Menschen mit anderen Behinderungen und Einschränkungen entwickelt werden.


Womit haben Sie sich bisher beschäftigt?


Stiefelhagen: Meine Forschung der vergangenen 15 Jahre befasste sich mit Bildverarbeitung und maschinellem Sehen. Hierbei ging es darum, Robotern oder anderen technischen Systemen das Sehen von Menschen oder Dingen zu lehren. Ziel war die bessere Mensch-Maschine-Kommunikation. Angesichts der großen Fortschritte im Bereich des maschinellen Sehens wollen wir nun diese Methoden nutzen, um Assistenzsysteme für sehgeschädigte Menschen zu bauen. Teure Fahrzeuge arbeiten mit Spurhaltesystemen – Blinde hingegen navigieren immer noch mit dem Langstock oder mithilfe eines Blindenhundes. Wieso nicht ein IT-System entwickeln, das Hindernisse erkennt und die Navigation in der Stadt erleichtert? Also eine Art elektronischer Blindenhund, der hilft, von A nach B zu navigieren, Gebäude, Schilder, Aufschriften, Objekte, Übergänge zu erkennen ... Vorstellbar wäre ein System, das unsichtbar in die Kleidung oder Accessoires eingearbeitet wird – wie eine Kamera in einer Brille, die Hindernisse und Objekte auf dem Weg erkennt und dann über ein akustisches oder haptisches Signal, wie zum Beispiel vibrierende Elemente, Feedback gibt.


Es gibt ja auch schon Navigationsgeräte, die Blinde benutzen könnten.



Stiefelhagen: Ja, Einzelsysteme wie spezielle Navigationsgeräte für Blinde mit Sprachausgabe, die bestimmte Probleme lösen, existieren. Aber hier eröffnen sich jede Menge ungelöste Probleme: So ist zum Beispiel das GPS als Datenlieferant zu ungenau, hält keine dynamischen Informationen über Hindernisse wie im Weg stehende Fahrräder auf dem Uni-Campus oder entgegenkommende Personen bereit, auch lassen sich keine Schilder oder Eingänge erkennen ...


Wie wollen Sie an dieses Thema herangehen?



Stiefelhagen: Den Forschungsarbeiten fehlen bislang mit Blick auf Praxisnähe Schlagkraft und Varianz. Am KIT haben wir die Chance, mit der Bildverarbeitung und Kollegen aus anderen Disziplinen wie der Robotik oder Elektrotechnik, vieles weiterzuentwickeln. Und vor allem haben wir das SZS mit seiner Expertise und seiner gewachsenen Zusammenarbeit mit Sehgeschädigten. So können wir von Anfang an Studierende und Mitarbeiter mit Sehschädigung in die Entwicklung einbinden und zielgruppenbezogen die Praxisnähe und Benutzerfreundlichkeit unserer Arbeit abgleichen. Neben den vom Maschinensehen inspirierten Ansätzen werden wir auch an anderen Themen wie der Mathematik-Umsetzung für Sehgeschädigte arbeiten, um beispielsweise mit speziellen Softwaretools Vorlesungsmaterial mit Formeln in ein für Sehgeschädigte einfach zu lesendes und editierbares Format umzusetzen.

Rainer Stiefelhagen und Joachim Klaus

Der neue Liter des SZS Rainer Stiefelhagen (links) zusammen mit dem Gründer Joachim Klaus.


Übernehmen Sie auch die Beratung am SZS, für die Joachim Klaus zuständig war?


Stiefelhagen: Da ich keinen ausgeprägten pädagogischen Hintergrund habe, muss ich mich zunächst einmal mit den Beratungsformen vertraut machen. Ich lerne intensiv die Sehtreffs und weitere Betreuungsangebote kennen. Deshalb ist es mir auch sehr wichtig, dass Joachim Klaus mit seiner umfassenden Erfahrung anfangs noch unterstützend und beratend zur Seite steht. Eine zentrale Basis sind aber auch Kompetenz und Wissen der langjährigen Mitarbeiter des SZS. Für mich, der aus dem wissenschaftlich-technischen Bereich kommt, ist die Servicedimension des SZS eine besondere Herausforderung.


Joachim Klaus, was geben sie ihrem Nachfolger mit auf den Weg?



Klaus: Ich wünsche mir, dass der pädagogische Bereich Teil der Arbeit des SZS bleibt und weiterentwickelt wird: von Veranstaltungen wie der Orientierungsphase für sehgeschädigte Studieninteressierte, die aus ganz Deutschland zu uns kommen, über die tutorielle Betreuung der Studierenden oder Services rund um den Übergang in den Arbeitsmarkt bis hin zum ICC als europaweite Veranstaltung. So bleibt das KIT durch das SZS mit seinen drei starken Säulen Service, Lehre und Forschung für sehgeschädigte Studierende herausragend attraktiv.

Stiefelhagen: Gerade im Wechselspiel von Forschung und Serviceorientierung sehe ich eine große Chance für die Zukunft des SZS. Mit seinen Beratungsangeboten und dem permanenten Austausch mit Betroffenen entstehen Impulse für Forschung und Forschungstransfer.